Mittwochnachmittag, ein Tag wie jeder andere. Susanne hatte ihre kleine Tochter auf dem Schoss als diese sie fragte wo denn der Schrank, in dem sie ihre Kleider und die Spielsachen aufbewahren würde, herkäme.
„Ok, die korrekte Antwort“, dachte Susanne, die sich vorgenommen hatte ihre Kinder nach Möglichkeit nicht mit Lügen und seien sie auch noch so klein, großzuziehen, „wäre aus dem Möbelhaus in der Bielefelder Straße“. Aber das würde eine Unzahl an Folgefrage nach sich ziehen, da war sie sich ganz sicher. Nicole, ihre Tochter, war zwar klein, aber aufgeweckt und voller Wissensdrang. Manchmal, so schien es, wollte der Fluss ihrer bohrenden Fragen gar nicht mehr versiegen. Und so holte Susanne einmal kurz Luft und erzählte ihrer Tochter die Geschichte vom Baum:
„Ein kleiner Rabe hat vor vielen, vielen Jahren zwei Eicheln im Wald gefunden. Diese nahm er mit um sie später in ruhe verspeisen zu können. Und während er mit den beiden Eicheln zwischen seinen Krallen so über das Land flog, kam ein plötzlicher Windstoß und er musste kurz gegensteuern. Dabei verlor er eine der Eicheln. Er sah der Eiche nach wie sie schnell am Waldrand zu Boden viel. Und weil dort das Gras so hoch und die Büsche so dicht waren unterließ er es nach ihr zu suchen. Eine Eichel, so dachte er sich, ist besser als keine Eichel zum Frühstück und flog zu seinem Schlafbaum. Wo er die übrig gebliebene Eichel kurz darauf genüsslich verspeiste.
Die heruntergefallene Eichel aber landet sanft im feuchten Gras und blieb versteckt unter einem großen Blatt liegen.
Einige Tage später fing die Eichel zu keimen an. Durch die warme Sonne und den feuchten Morgentau war sie zum Leben erwacht und aus ihr wuchs ein neuer, noch klitzekleiner Eichenbaum. Nicht größer als dein kleiner Finger.“
Nicole schaute lächelnd auf ihren kleinen Finger, wackelte erfreut damit und lauschte dann weiter den Worten ihrer Mutter.
„Und der kleine Eichenbaum hatte Glück, kein großes Tier hat ihn versehentlich platt getrampelt und kein hungriges Schaf hat ihn gefressen. So wurde er langsam größer, erst nur wenige Zentimeter doch nach einigen Jahren war er schon fast einen Meter hoch. Und er war nicht der einzige kleine Baum. Um ihn herum wuchsen weitere, neue Bäume heran. Buchen, Birken und auch eine kleine Kiefer. Wenn der Wind über das Land strich dann wiegten sich die kleinen Bäume, die schnell Freunde wurden, sanft im Wind. Und wenn der Sturm über die Berge peitschte dann bogen sich so sehr das ihre Spitzen fast den Boden berührten, aber keinen von ihnen brach ab. Denn sie waren jung und flexibel. Nur ein böses Kind, das hat einmal einen kleinen Baum abgebrochen um dann damit die anderen Kinder zu hauen. Da waren seine Baumfreunde recht traurig.
Und so wurden die kleinen Bäume schnell größer. Meter um Meter wuchsen sie. Im Winter bog der Schnee ihre Äste nach unten, im Frühjahr und Herbst lies der Sturm sie hin und her schwanken und jeden Sommer worden sie noch grüner und schöner. Zu ihren Füßen spielten viele Kinder und manchmal wurde die Bäume von ganz mutigen Kindern auch beklettert. Wenn die Kinder in der Schule waren, dann hoppelten die Hasen zwischen ihren Wurzeln herum, Rehe schritten langsam, oder manchmal auch ganz schnell zwischen ihnen hindurch und Vögel bauten jeden Frühling Nester in ihren Zweigen um darin ihre Jungen großzuziehen. So verging Jahr um Jahr und die Eiche wurde groß und stattlich. Bis sie endlich nach langer, langer Zeit reif war und vom Förster Putlich, der in einem kleinen Haus nicht weit entfernt vom Waldrand wohnte, gefällt wurde. Im Sägewerk wurden dann Bretter aus der Eiche gesägt und der Tischler hat uns dann diesen Schrank daraus gebaut.
Und“, sagte sie zu ihrer Tochter, „wenn du manchmal deine Ohren ganz doll spitzt und sie an das Holz legst, kannst du noch das vergangene Rauschen des Windes in den Ästen hören.“ Sofort sprang die kleine Nicole von den Knien ihrer Mutter und rannte zu ihrem Schrank um ihr zartes Öhrchen gegen das Möbelstück zu pressen. Mit geschlossenen Augen lauschte sie einen Moment und zog dann die Luft durch die Nase ein als wolle sie Schnuppern. „gehört habe ich nichts Mama, aber ich kann noch den Wald riechen. Und die vielen kleinen Hasen die einmal unter meinem Schrank gespielt haben. Natürlich als er noch ein Eichenbaum war“, verbesserte sie sich schnell.
Und so verging der Tag und es kam die Nacht.
Susanne lag im Bett und konnte nicht schlafen. Das konnte sie noch nie wenn sie unzufrieden mit sich selber war. Sie hatte ihrer Tochter eine Geschichte, ein Märchen erzählt, als diese nach der Wahrheit fragte. Aber was ist die Wahrheit? Und was ist das für eine Wahrheit in der Bäume von Forstwirten in Uniform gepflanzt werden. In Reih und Glied, mit ausreichendem Abstand. Umgeben von einem Metalldraht der sie vor dem Verbiss durch das Wild schützen soll. Wild das wohl nur darum noch im Wald geduldet wird damit die Hobbyjäger etwas zum abknallen haben. Und was ist das für eine Realität in der der Eichenbaum eigentlich eine schnell wachsende Fichte ist. Industrieholz. Die maschinell von einem Ungetüm aus Stahl gefällt und zerlegt wird. Kein Förster schärft mehr seine Axt im Wald.
Und wie soll sie ihrer Tochter erklären, dass der Baum, oder vielmehr sein Stamm, anschließend mit nach Öl stinkenden Lastwagen in eine Fabrik transportiert wird um dort zu Sägespänen zerhäckselt, mit viel Chemie und Leim zu immer gleichen Spanplatten gepresst zu werden?
Soll sie ihrer Tochter wirklich sagen, dass diese Spanplatten dann in einer gesichtlosen Fabrik von missmutigen Arbeitern am Fließband zu einem Normschrank zurecht gesägt und montiert werden. Einem wackeligen Normschrank den man in jedem mittelmäßigen Möbelhaus für kleines Geld kaufen kann.
Susanne spürte wie ihr langsam die warmen Tränen über die Wangen rannen. Warum kann nicht einmal das Märchen über die verdammte Realität siegen?
Sommer 2008