Spätes Erwachen

Das Tagebuch liegt offen auf dem Tisch. Eine Eintragung, schon Jahre alt. „Bin mitten in der Nacht wach geworden. Habe geträumt. Habe noch sein Gesicht schwach vor Augen. Bin aufgewacht mit dem Wissen, das ist er, genau dieser. Doch dann ist sein Gesicht verschwommen. Kann mich nicht klar erinnern wie er aussah, aussieht. Doch ich weiß, ich werde ihn immer wiedererkennen, immer, sobald ich ihn sehe. Und mit dieser Gewißheit bin ich wieder eingeschlafen.“ Diese Eintragung ist alt. Und nun sitzt sie wieder vor ihrem Tagebuch. Es ist dunkel im Zimmer. Die Lampe am Schreibtisch und ein paar Kerzen beleuchten den Raum. Sie hält den Stift in der linken Hand, doch weiß sie nicht genau was, ob sie schreiben soll. Sie legt den Stift beiseite, die Hand greift erst zum Glas mit dem Whisky, dann zur Zigarette. Ihre dunklen Augen starren gegen die Wand, kein Windhauch streicht durch die schwarzen Haare. Die Hand greift mechanisch nach dem Stift: „Ich habe ihn solange gesucht. Bin von Ort zu Ort, von Kneipe zu Kneipe geirrt, doch gefunden habe ich ihn nicht. Habe viele getroffen, einige gehabt, die mir gefallen haben. Doch mein Traum trieb mich immer weiter, konnte nicht bei ihnen bleiben, konnte ihre Nähe nicht ertragen. Denn gesucht habe ich nur dich. Gesucht habe ich immer nur meinen Traum. Und jetzt sitze ich hier, leer und ausgebrannt. Habe dich immer noch nicht gefunden. habe mich schon tausendmal gefragt, warum habe ich von dir geträumt, warum wußte ich, daß nur du es sein kannst, woher weiß ich überhaupt wer du bist ? Wer bist du ? Die Nächte werden kälter, doch es ist Sommer. Habe die ganzen Leute schon längst durchschaut. Mit denen ist nichts los, mit denen kann ich nichts anfangen. Und darum verzeiht mir, vielleicht versteht ihr warum ich nun gehe, gehen muß. Sagt meinen Eltern das ich sie liebe, doch den, den ich am meisten liebe, den habe ich nicht gefunden und meine Kraft ist aufgebracht. Keine Hoffnung mehr.“ Sie schlägt das Buch zu und geht. Draußen ist es kalt, doch das stört sie nicht. Zielstrebig geht sie ihren Weg, sie kennt ihn, ist ihn schon oft gegangen. Doch diesmal ist es ihr ernst, kein Ausweg mehr in Sicht. Sie erreicht die Bahnschienen. Der Platz ist gut gewählt, direkt hinter einer Kurve, keine Chance zum Bremsen. Die Sterne leuchten, bald wird sie bei ihnen sein, bald wird sich ihre Sehnsucht erfüllen. Eine Träne rollt über ihre Wange, sie leuchtet im Licht des Mondes. Der Zug kommt. Aufrecht steht sie mitten auf dem Gleis, aufrecht will sie sterben. Der Zug kommt näher, hört sein Rauschen, sieht schon den Schein der Lampen. Da, jetzt biegt er um die Ecke, nur noch Sekunden bleiben ihr. Sie fühlt sich frei wie nie, wenn sie ihr Glück schon nicht hier unten gefunden hat, dann vielleicht oben bei den Sternen, vielleicht in der Dunkelheit des Todes. Nur noch wenige Meter. Der Mond scheint hell durch die Fenster der Lok. Da sieht sie es, dieses Bild, dieses Gesicht. Hinter dem Fenster schimmert fahl der Antlitz den sie immer gesucht hatte. Sie will schreien vor Freude, doch kein Laut entrinnt ihrer Kehle. Sie lächelt und der Stahl der Lok zerschmettert ihren Körper.

Hagen, 15.01.1995

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