Susanne und der Baum

Mittwochnachmittag, ein Tag wie jeder andere. Susanne hatte ihre kleine Tochter auf dem Schoss als diese sie fragte wo denn der Schrank, in dem sie ihre Kleider und die Spielsachen aufbewahren würde, herkäme.
„Ok, die korrekte Antwort“, dachte Susanne, die sich vorgenommen hatte ihre Kinder nach Möglichkeit nicht mit Lügen und seien sie auch noch so klein, großzuziehen, „wäre aus dem Möbelhaus in der Bielefelder Straße“. Aber das würde eine Unzahl an Folgefrage nach sich ziehen, da war sie sich ganz sicher. Nicole, ihre Tochter, war zwar klein, aber aufgeweckt und voller Wissensdrang. Manchmal, so schien es, wollte der Fluss ihrer bohrenden Fragen gar nicht mehr versiegen. Und so holte Susanne einmal kurz Luft und erzählte ihrer Tochter die Geschichte vom Baum:
„Ein kleiner Rabe hat vor vielen, vielen Jahren zwei Eicheln im Wald gefunden. Diese nahm er mit um sie später in ruhe verspeisen zu können. Und während er mit den beiden Eicheln zwischen seinen Krallen so über das Land flog, kam ein plötzlicher Windstoß und er musste kurz gegensteuern. Dabei verlor er eine der Eicheln. Er sah der Eiche nach wie sie schnell am Waldrand zu Boden viel. Und weil dort das Gras so hoch und die Büsche so dicht waren unterließ er es nach ihr zu suchen. Eine Eichel, so dachte er sich, ist besser als keine Eichel zum Frühstück und flog zu seinem Schlafbaum. Wo er die übrig gebliebene Eichel kurz darauf genüsslich verspeiste.
Die heruntergefallene Eichel aber landet sanft im feuchten Gras und blieb versteckt unter einem großen Blatt liegen.
Einige Tage später fing die Eichel zu keimen an. Durch die warme Sonne und den feuchten Morgentau war sie zum Leben erwacht und aus ihr wuchs ein neuer, noch klitzekleiner Eichenbaum. Nicht größer als dein kleiner Finger.“
Nicole schaute lächelnd auf ihren kleinen Finger, wackelte erfreut damit und lauschte dann weiter den Worten ihrer Mutter.
„Und der kleine Eichenbaum hatte Glück, kein großes Tier hat ihn versehentlich platt getrampelt und kein hungriges Schaf hat ihn gefressen. So wurde er langsam größer, erst nur wenige Zentimeter doch nach einigen Jahren war er schon fast einen Meter hoch. Und er war nicht der einzige kleine Baum. Um ihn herum wuchsen weitere, neue Bäume heran. Buchen, Birken und auch eine kleine Kiefer. Wenn der Wind über das Land strich dann wiegten sich die kleinen Bäume, die schnell Freunde wurden, sanft im Wind. Und wenn der Sturm über die Berge peitschte dann bogen sich so sehr das ihre Spitzen fast den Boden berührten, aber keinen von ihnen brach ab. Denn sie waren jung und flexibel. Nur ein böses Kind, das hat einmal einen kleinen Baum abgebrochen um dann damit die anderen Kinder zu hauen. Da waren seine Baumfreunde recht traurig.
Und so wurden die kleinen Bäume schnell größer. Meter um Meter wuchsen sie. Im Winter bog der Schnee ihre Äste nach unten, im Frühjahr und Herbst lies der Sturm sie hin und her schwanken und jeden Sommer worden sie noch grüner und schöner. Zu ihren Füßen spielten viele Kinder und manchmal wurde die Bäume von ganz mutigen Kindern auch beklettert. Wenn die Kinder in der Schule waren, dann hoppelten die Hasen zwischen ihren Wurzeln herum, Rehe schritten langsam, oder manchmal auch ganz schnell zwischen ihnen hindurch und Vögel bauten jeden Frühling Nester in ihren Zweigen um darin ihre Jungen großzuziehen. So verging Jahr um Jahr und die Eiche wurde groß und stattlich. Bis sie endlich nach langer, langer Zeit reif war und vom Förster Putlich, der in einem kleinen Haus nicht weit entfernt vom Waldrand wohnte, gefällt wurde. Im Sägewerk wurden dann Bretter aus der Eiche gesägt und der Tischler hat uns dann diesen Schrank daraus gebaut.
Und“, sagte sie zu ihrer Tochter, „wenn du manchmal deine Ohren ganz doll spitzt und sie an das Holz legst, kannst du noch das vergangene Rauschen des Windes in den Ästen hören.“ Sofort sprang die kleine Nicole von den Knien ihrer Mutter und rannte zu ihrem Schrank um ihr zartes Öhrchen gegen das Möbelstück zu pressen. Mit geschlossenen Augen lauschte sie einen Moment und zog dann die Luft durch die Nase ein als wolle sie Schnuppern. „gehört habe ich nichts Mama, aber ich kann noch den Wald riechen. Und die vielen kleinen Hasen die einmal unter meinem Schrank gespielt haben. Natürlich als er noch ein Eichenbaum war“, verbesserte sie sich schnell.
Und so verging der Tag und es kam die Nacht.

Susanne lag im Bett und konnte nicht schlafen. Das konnte sie noch nie wenn sie unzufrieden mit sich selber war. Sie hatte ihrer Tochter eine Geschichte, ein Märchen erzählt, als diese nach der Wahrheit fragte. Aber was ist die Wahrheit? Und was ist das für eine Wahrheit in der Bäume von Forstwirten in Uniform gepflanzt werden. In Reih und Glied, mit ausreichendem Abstand. Umgeben von einem Metalldraht der sie vor dem Verbiss durch das Wild schützen soll. Wild das wohl nur darum noch im Wald geduldet wird damit die Hobbyjäger etwas zum abknallen haben. Und was ist das für eine Realität in der der Eichenbaum eigentlich eine schnell wachsende Fichte ist. Industrieholz. Die maschinell von einem Ungetüm aus Stahl gefällt und zerlegt wird. Kein Förster schärft mehr seine Axt im Wald.
Und wie soll sie ihrer Tochter erklären, dass der Baum, oder vielmehr sein Stamm, anschließend mit nach Öl stinkenden Lastwagen in eine Fabrik transportiert wird um dort zu Sägespänen zerhäckselt, mit viel Chemie und Leim zu immer gleichen Spanplatten gepresst zu werden?
Soll sie ihrer Tochter wirklich sagen, dass diese Spanplatten dann in einer gesichtlosen Fabrik von missmutigen Arbeitern am Fließband zu einem Normschrank zurecht gesägt und montiert werden. Einem wackeligen Normschrank den man in jedem mittelmäßigen Möbelhaus für kleines Geld kaufen kann.
Susanne spürte wie ihr langsam die warmen Tränen über die Wangen rannen. Warum kann nicht einmal das Märchen über die verdammte Realität siegen?

Sommer 2008

Die kleine Elfe

Es gibt Menschen die behaupten es gäbe keine kleinen Wesen wie Elfen, Feen oder Kobolde. Sie erklären stattdessen die Welt lieber mit berechenbaren Formeln. Das macht es für sie einfacher, denn Formeln kann man sehen. Wissenschaft kann man anfassen. Glauben nicht. Und wenn man krank wird, dann geht man zum Arzt und läßt sich ein paar Pillen verschreiben. Und die machen einen dann wieder gesund. So denken diese Menschen. Ihnen fällt nicht auf, das kranke Kinder im Schlafe manchmal anfangen zu lächeln. Und das dann ihr Fieber fällt und sie am Morgen gesund erwachen. „Die Pillen haben geholfen“, sagen die Erwachsenen dann gerne. Denn sie haben nicht die kleine Elfe gesehen, in der Nacht, am Bett ihres Kindes. Wie sie ihm zärtlich heilende Worte, die so alt wie die Welt sind, ins Ohr flüsterte. Aber das war schon immer so. Keiner dankte es der kleinen Elfe, denn niemand sah sie. D.h. fast niemand. Denn Kinderaugen sehen mehr. Ihr Gehirn ist noch nicht auf Logik trainiert. Und so macht die kleine Elfe eifrig ihren Job. Und sie tat es mit Freude, das Lächeln der schlafenden Kinder ist ihr Lohn genug. In manchen Zeiten hatte sie mehr zu tun und dann wieder weniger. Nur manchmal konnte selbst ihre Magie nicht helfen. Das macht sie immer sehr traurig. Doch dann dachte sie an die Kinder die nun wieder gesund waren, denen sie geholfen hatte und die denen sie helfen wird, in naher Zukunft.

Und darum erhalte das Kind in dir am Leben, denn wenn du mal krank sein solltest. Es dir schlecht geht. Dann besucht sie dich vielleicht im Schlaf. Und du lächelst. Glaube an das Gute und es wird dich besuchen.

Hamburg, 22.07.2000

Die Zuckerfee

Ich weiss, es kann sich heute niemand mehr so richtig vorstellen, aber Zucker ist eine recht neue Erfindung. Und früher mussten die Kinder auf dieses süße Erlebnis oft verzichten. Denn der Honig war teuer und die meisten Menschen waren arm. Aber es gab noch eine andere Möglichkeit seine Mahlzeit zu versüßen, jedenfalls für die Kinder. Und davon soll diese kleine Geschichte handeln.

Wenn man durch die Bauerndörfer zog konnte man oft die Kinder hören, wie sie ihre Eltern anbettelten. „Bitte, nur einen kleinen Löffel Honig in die Suppe, sie schmeckt so fad. “ Und wenn man gute Ohren besaß konnte man das leise Schluchzen der Mutter hören bevor sie antwortete. „Mein Liebling, hätte ich Honig. Ich würd‘ ihn dir geben. Doch sieh, wir sind nur arme Bauersleut. Und der Nektar der Blumen ist zu teuer für uns.“ Und das war wohl wahr. Und so aßen sie Abend für Abend ihr karges Süppchen ohne zu murren. Doch nach dem Mahl, wenn die gesamte Familie am Kamin saß in dem knisternden das Feuerholz brannte. Die Großmutter mit der Handarbeit beschäftigt, der Vater den großen Hund streichelnd, dann erzählte die Mutter oft die Geschichte von der Zuckerfee:
Die Zuckerfee ist ein zartes Wesen das im fernen Zauberwalde in einem alten Baum wohnt. Und wie alle Feen und Zauberwesen ist sie für die Menschen unsichtbar. Nur Babies und ganz kleine Kinder können sie sehen. Doch sicher weiss das niemand, aber warum sonst schauen sich kleine Kinder nach Dingen um die niemand anders sieht ? Am Tage verläßt die Zuckerfee ihren Wald und fliegt in die Dörfer der Menschen. Um die Menschenkinder zu beobachten. Sie hält Ausschau nach den lieben Kindern, nach solchen die den Worten ihrer Eltern folgen. Die artig sind und sauber. Und solchen versüßte sie dann mit ihrer Magie die Suppe. Sie selbst bleibt dabei ungesehen, kein Mensch kennt sie. Und doch erfreut sie sich an dem freudigen Lächeln der Kleinen, wenn sie ihre Suppe kosten. Jedesmal wollt‘ ihr Herz vor Freude zerspringen. Das Lachen der Kinder war ihr Leben.
Und es entsprach der Wahrheit. So stimmten alle, nachdem die Mutter mit ihrer Geschichte geendet hatte, überein. An manchen Tagen war die Suppe wirklich süßer. Alle konnten das beschwören, schon die Großmutter hatte es so erlebt. Und ihre Großmutter ebenfalls.
So, oder so ähnlich erzählten fast alle Mütter ihren Kindern die Geschichte der Zuckerfee. Und deren Kinder dann wieder ihren Kindern. Und alle glaubten fest daran. Die Zuckerfee schwebte manchmal daneben, ungesehen, und hörte sich lächelnd die Geschichte an. Bevor sie zurück kehrte, in den dunklen Wald zu ihrem Baum. Manchmal in der Nacht saß sie einfach so da und betrachtete den Mond der sich in dem klaren See spiegelte. Er erinnerte sie an den freudigen Glanz der großen Kinderaugen.

Die Welt wurde älter und änderte sich. Maschinen kamen auf. Riesige, rauchende Monster, die alles frassen. Der Wald wurde dünner. Feuerholz für die Maschinen. Und dann wurde der Zucker erfunden. Erst aus Zuckerrohr, dann aus den billigen Rüben. Jeder konnte sich nun seine Suppe selbst versüßen. Für ein paar Pfennige gab es ihn überall, den süßen Traum.
Von heute auf Morgen war das Leben der Zuckerfee ohne Sinn. Kein Kind lachte mehr freudig wenn sie ihm das Essen versüßte. Denn jedes Essen ward nun süß. Die arme Fee wurde krank. Sie zog sich zurück in ihren Baum. Sie blickte Nachts nicht mehr auf den See. Zu schwer lag die Erinnerung in den Bildern die sich an seiner Oberfläche spiegelten. Sie wollte sich verkriechen und sterben. Doch starb sie nicht. Sie war wie alle Zauberwesen zur Unendlichkeit verdammt. Die meisten anderen Elfen, Feen und auch schon fast alle Gnome waren verschwunden. Sie hatten das Weite gesucht. Diese Welt brauchte sie nicht mehr. Doch die kleine Zuckerfee war zu schwach zum flüchten.
Doch als eines Tages auch ihr Baum gefällt wurde, machte sie sich auf den Weg. Doch wo sollte sie hin. Eine Ewigkeit hatte sie die Kinder erfreut. Sie zu netten Menschen gemacht, mit ihrer Magie. Und jetzt ? Niemand schien sie mehr zu brauchen. Mit trüben Gedanken wandelte sie durch die Welt der Menschen. Auf der Suche nach einem Fleckchen Erde wo es so war, wie es einst gewesen. Wo sie glücklich sein konnte. Doch diesen Flecken Erde gab es nicht. Nichts war wie es einmal gewesen. Die Zeiten hatten sich geändert, endgültig.
Die Zuckerfee hatte sich in einen kleinen Wald zurück gezogen. Hier wohnte sie nun schon seit etlichen Jahren, oder noch länger? Ich weiß es nicht genau. Ihr Haar war stumpf geworden und ihre Flügel mochten sie nicht mehr so recht tragen, so kraftlos waren sie.
Doch eines Sommertags sollte sich alles ändern. Als sie mutlos und ohne Ziel durch ihr kleines Wäldchen schlenderte hörte sie ein Seufzen. Neugierig folgte sie dem traurigen Klang. Und schon bald fand sie einen Jüngling der es sich im weichen Gras gemütlich gemacht hatte. Traurig schaute er in den Himmel und sprach zu sich selbst: „Mein Liebchen, noch drei lange Wochen und wir sehen uns wieder. Doch wie soll ich diese lange Zeit ertragen ? Sie fehlt mir so. Könnte ich doch ihren zuckersüßen Kuß auf meinen Lippen noch schmecken.“ Die Zuckerfee lehnte an einem Baum und hörte dem Jüngling bei seinem Selbstgespräch zu. Nachdenklich sah sie ihn an. Er schloss seine Augen und schlief in der warmen Sonne und auf dem weichen Moos ein. Langsam, ganz behutsam näherte sich die Zuckerfee dem Schläfer und hauchte ihm sanft einen Kuss auf die roten Lippen. Sogleich erwachte er. „War wohl nur ein Traum das meine Marie mich küsste, schade“, so dachte er verwirrt. Er fuhr sich mit der Zunge über die Lippen und stockte. „Aber ich schmecke doch ganz deutlich ihren süßen Kuß. Wie kann es dann ein Traum gewesen sein ?“, rief er freudig aus. Lächelnd schlich sich die Zuckerfee davon.

Und deshalb denkt dran, wenn ihr euren liebsten Menschen vermisst. Und erwacht von einem Kuß. Dann könnte das die Zuckerfee gewesen sein, die euch das Warten versüßen wollte. Einige Menschen wollen sogar noch den Luftzug ihrer Flügel gespürt haben. Doch das ist nur ein Gerücht.

Und weil niemand mehr die Geschichte erzählen wollte, tat ich es. In der Hoffnung das ihr sie weiter erzählt. Auf das sie einmal lächelnd neben euch sitzt, während ihr sie erzählt.

Dedicated to Nadja, Spätsommer 1999

Für einen den ich liebe, doch ich weiß nicht wo er ist

Der Winter kam, die Nächte wurden kälter. Ich war mir nicht so ganz sicher, was ich an ihm fand. Da war irgendwie Zuneigung, da war irgendwie Gefühl. Doch ich war mir nicht so ganz sicher. Und so lief unser Leben so dahin. Bis zu diesem Abend, bis zu dieser Nacht. Wo ich ihn, Tom, verloren und die Liebe entdeckt habe. Wir waren nun schon seit einem Jahr zusammen, lebten in unserer eigenen kleinen Wohnung mit unseren eigenen, billigen Möbeln. Es war zuerst nicht die wahre Liebe gewesen. Es war mehr eine Art Torschluß Panik, bei uns beiden. Irgendwann kommt das Alter wo die Hormone verrückt spielen, wo man glaubt niemanden mehr mit zu bekommen. In genau so einer Laune kamen wir zusammen. Nach einem viertel Jahr flog er bei seinen Eltern aus der Wohnung und so zogen wir zusammen. Anfangs war es ein herrliche Zeit. Voller Romantik, Abenteuer und viel Spaß. Ab und zu gab es mal Streß oder Ärger. Kurz, alles war in bester Ordnung. Doch mit der Zeit wurde der Streß größer. Die Streits häuften sich und er wurde immer komischer. Zog sich immer mehr in sich zurück und las alte seltsame Bücher. Irgendwann war ich mir dann sicher, daß ich ihn nie geliebt hatte, daß das alles nur Einbildung war. Und so kam eines zum anderen. Ich traf einen Freund aus alten Tagen, ging mit ihm ab und zu mal aus und konnte wieder lachen. Dann eines Abends, zuviel Alkohol, zuviel gute Laune, gingen wir zusammen ins Bett. Das war der Anfang vom Ende. Ich weiß nicht wie, aber Tom hatte es irgendwie erfahren. Heute bin ich der Meinung, er hatte es gespürt, so wie er vieles gespürt hatte. – Er stellte mich zur Rede. Erst versuchte ich zu leugnen, aber es hatte keinen Sinn. Die Stimmung war scheiße und durch den Alkohol war ich enthemmt und so schrie ich ihn an und sagte Dinge die ich besser nicht gesagt hätte. Ich weiß nicht mehr was ich ihm alles gesagt hatte, ich kann mich nur noch an eines erinnern: Seinen Blick als er zu mir sagte, „Aber Claudia, ich liebe dich doch“. Dieser Blick war voller Angst und Hoffnung zugleich. Doch ich blöde Ziege habe nur gelacht und bin zurück zu Bernd gegangen. Die nächste Zeit war schrecklich. Ich konnte nicht sofort zurück zu meinen Eltern und dort einziehen und ich konnte schon gar nicht bei Bernd einziehen. So blieb ich mit Tom in einer Wohnung. Bernd kam oft zu Besuch. Immer wenn er Auftauchte war Tom verschwunden, in sein Zimmer oder hinaus in die Nacht. Da wir noch zusammen in einer Wohnung lebten lies es sich nicht vermeiden, daß wir uns öfter sahen. Doch es wurden kaum noch Worte zwischen uns gewechselt. Nur einmal, es war kurz vor diesem Abend. Da kam er zu mir. Das Gesicht irgendwie versteinert, die Augen leer. „Claudia, was ist los mit uns ?“, fragte er mit trauriger Stimme. „Wo ist all die Liebe hin, wo ist unsere Zukunft ??“ Nun, ich habe auf all seine Fragen nicht geantwortet, habe starr zum Fernseher gesehen. Ich hätte auch nicht gewußt was ich sagen sollte. Er blieb noch einige Minuten in der Tür stehen und sah mich mit versteinerter Miene an. Dann huschte ein Lächeln über sein Gesicht. „Es ist Zeit zu gehen. Die Drachen rufen meinen Namen“ Ich verstand es damals nicht. Jetzt habe ich es verstanden, einen Tag später wußte ich was er gemeint hatte. Am nächsten Tag rief Bernd an, ob er heute Abend bei mir mit ein paar Freunden vorbei kommen dürfte, er hätte etwas wirklich aufregendes für mich. Ich sagte ja. Heute weiß ich nicht, ob alles so gekommen wäre, wenn ich nein gesagt hätte. Ich glaube schon, aber der Zweifel nagt trotzdem in mir. Und so kam dieser Abend der mein Leben, mein Denken so beeinflussen sollte immer näher. Bernd kam mit 2 Freunden und einer Frau. Sie war so um die 50. „Sie ist ein Medium“, erzählte Bernd mir. „Wir werden heute versuchen Kontakt mit einem Geist aufzunehmen.“ Mir war das alles irgendwie nicht geheuer, aber irgendwie fehlte mir auch der Mut dagegen aufzubegehren. So setzten wir uns alle im Kreis auf den Boden. Kerzen wurden aufgestellt und die Frau breitete allerlei eigenartige Dinge in der Mitte aus. Wir nahmen uns bei den Händen und die Frau begann mit einer Art Sing Sang. Ich fand das alles ziemlich albern, doch konnte ich mich der Atmosphäre nicht entziehen. Die Luft schien vor Magie zu knistern. Die Frau hörte mit ihrem Gesinge auf und sprach in die Mitte des Raumes: „Ist jemand hier in der Nähe, komm und besuche uns, wir warten auf dich.“ Niemand antwortete, klar, genau das hatte ich erwartet. „Ich spüre etwas“, sagte da die Frau. „Es ist stark, es kommt auf uns zu“. Sie verstummte und verfiel wieder in ihren Sing Sang. Irgendwie konnte ich spüren, daß sich etwas tat. Und da sahen wir es. In der Dunkelheit des Hintergrundes war auf einmal ein Licht. Erst schwach. Doch es pulsierte und wurde stärker. Jetzt sah ich es deutlich, es war ein Tor und hinter dem Tor war … Zuerst konnte man es nicht klar erkennen, sah nur verschwommenes grün. Doch bald machte ich eine Wiese aus. Geräusche drangen an mein Ohr. Das Summen der Frau war längst verstummt. Es war ein kurzer melodischer Gesang., nein, mehr ein kurzer Ausschnitt aus einem Gesang. Es klang wunderschön. Doch die Quelle dieser Töne war nicht zu erkennen. Das heißt noch nicht. Der Blick durch das Tor nahm mich voll in Besitz und die Anderen wohl auch. Die Frau, ich weiß bis heute ihren Namen nicht, stand auf. Sie hatte wohl die größte Erfahrung mit solchen Phänomenen und war nicht so gelähmt durch sie wie wir anderen. Sie schritt genau auf dieser Tor zu, streckte die Hand nach ihm aus und zog sie zu Tode erschrocken sofort zurück. Ein Drache, ja eines von diesen Fabeltieren die es nicht gibt, nicht geben soll, war erschienen und schnappte nach ihr. Ich weiß nicht mehr ob sie geschrien hat, wir alle wurden abgelenkt, genau in diesem Augenblick. Die Tür zu dem Zimmer indem wir saßen öffnete sich. Alle Augen richteten sich darauf. Tom trat ein, schloß die Tür und ging geradewegs auf das magische Tor zu. Der Drache dahinter schien auf ihn zu warten. Groß, grün und gräßlich. Genauso wie man ihn aus den ganzen Schauergeschichten kennt. Wo er dann Jungfrauen frißt und tapfere Ritter tötet. Die Frau, die noch immer am Tor stand ging zwei Schritte zur Seite. Sie schien Tom Platz machen zu wollen. Was heißt hier es schien so, sie machte ihm Platz. Ohne sich umzudrehen oder zu zögern trat er hindurch und der Drache machte keine Anstalten nach ihm zu schnappen oder ihn gar zu töten. Statt dessen senkte der mächtige Drachen sein Haupt und Tom sprang mit einem Satz auf den Rücken des Tieres. (Kann man sowas überhaupt Tier nennen ???) Der Drache wollte sich gerade erheben und davon fliegen, da schaute Tom sich nach mir um. Er sah mir einfach nur in die Augen und lächelte. Ich sah den Drachen starten, sah ihn Fliegen, hörte seinen Gesang und sah das Tor wie es schwächer wurde. Und bevor auch nur einer von uns etwas tun konnte war es verschwunden. Es gab natürlich heftige Diskussionen und wir versuchten das Tor erneut zu öffnen, aber es gelang uns nicht. Wie es uns auch in den anderen Nächte nicht gelang. Das ist nun schon ein Jahr her. Ich lebe allein. Bernd war nichts für mich und eigentlich sehne ich mich nach Tom. Denke häufig an die guten Zeiten mit ihm, an die Fehler die wir begangen haben, denke an sein Verschwinden. Und jedesmal schreit in mir eine Stimme, jedesmal schreit sie das Selbe, immer den selben Wortlaut, immer „Tom, ich liebe dich. Wo bist du“. Doch es kommt keine Antwort. Verloren. Warum habe ich die Liebe erst erkannt als es schon zu spät war ?? Warum habe ich damals nicht einmal auf mein Gefühl gelauscht, nicht das was einem immer durch den Kopf geht. Ich meine diese leise feine Stimme die tiefer sitzt, die man so gerne überhört, die viele nie gehört haben. Warum ??? Und Nachts liege ich oft wach, und dann lausche ich dem Gesang der Drachen. Irgendwann kommt er mich holen, oder ich finde den Schlüssel zu seiner Welt. Hoffnung ist das, was mich am Leben hält.

Hagen den 27.12.1994

Spätes Erwachen

Das Tagebuch liegt offen auf dem Tisch. Eine Eintragung, schon Jahre alt. „Bin mitten in der Nacht wach geworden. Habe geträumt. Habe noch sein Gesicht schwach vor Augen. Bin aufgewacht mit dem Wissen, das ist er, genau dieser. Doch dann ist sein Gesicht verschwommen. Kann mich nicht klar erinnern wie er aussah, aussieht. Doch ich weiß, ich werde ihn immer wiedererkennen, immer, sobald ich ihn sehe. Und mit dieser Gewißheit bin ich wieder eingeschlafen.“ Diese Eintragung ist alt. Und nun sitzt sie wieder vor ihrem Tagebuch. Es ist dunkel im Zimmer. Die Lampe am Schreibtisch und ein paar Kerzen beleuchten den Raum. Sie hält den Stift in der linken Hand, doch weiß sie nicht genau was, ob sie schreiben soll. Sie legt den Stift beiseite, die Hand greift erst zum Glas mit dem Whisky, dann zur Zigarette. Ihre dunklen Augen starren gegen die Wand, kein Windhauch streicht durch die schwarzen Haare. Die Hand greift mechanisch nach dem Stift: „Ich habe ihn solange gesucht. Bin von Ort zu Ort, von Kneipe zu Kneipe geirrt, doch gefunden habe ich ihn nicht. Habe viele getroffen, einige gehabt, die mir gefallen haben. Doch mein Traum trieb mich immer weiter, konnte nicht bei ihnen bleiben, konnte ihre Nähe nicht ertragen. Denn gesucht habe ich nur dich. Gesucht habe ich immer nur meinen Traum. Und jetzt sitze ich hier, leer und ausgebrannt. Habe dich immer noch nicht gefunden. habe mich schon tausendmal gefragt, warum habe ich von dir geträumt, warum wußte ich, daß nur du es sein kannst, woher weiß ich überhaupt wer du bist ? Wer bist du ? Die Nächte werden kälter, doch es ist Sommer. Habe die ganzen Leute schon längst durchschaut. Mit denen ist nichts los, mit denen kann ich nichts anfangen. Und darum verzeiht mir, vielleicht versteht ihr warum ich nun gehe, gehen muß. Sagt meinen Eltern das ich sie liebe, doch den, den ich am meisten liebe, den habe ich nicht gefunden und meine Kraft ist aufgebracht. Keine Hoffnung mehr.“ Sie schlägt das Buch zu und geht. Draußen ist es kalt, doch das stört sie nicht. Zielstrebig geht sie ihren Weg, sie kennt ihn, ist ihn schon oft gegangen. Doch diesmal ist es ihr ernst, kein Ausweg mehr in Sicht. Sie erreicht die Bahnschienen. Der Platz ist gut gewählt, direkt hinter einer Kurve, keine Chance zum Bremsen. Die Sterne leuchten, bald wird sie bei ihnen sein, bald wird sich ihre Sehnsucht erfüllen. Eine Träne rollt über ihre Wange, sie leuchtet im Licht des Mondes. Der Zug kommt. Aufrecht steht sie mitten auf dem Gleis, aufrecht will sie sterben. Der Zug kommt näher, hört sein Rauschen, sieht schon den Schein der Lampen. Da, jetzt biegt er um die Ecke, nur noch Sekunden bleiben ihr. Sie fühlt sich frei wie nie, wenn sie ihr Glück schon nicht hier unten gefunden hat, dann vielleicht oben bei den Sternen, vielleicht in der Dunkelheit des Todes. Nur noch wenige Meter. Der Mond scheint hell durch die Fenster der Lok. Da sieht sie es, dieses Bild, dieses Gesicht. Hinter dem Fenster schimmert fahl der Antlitz den sie immer gesucht hatte. Sie will schreien vor Freude, doch kein Laut entrinnt ihrer Kehle. Sie lächelt und der Stahl der Lok zerschmettert ihren Körper.

Hagen, 15.01.1995

Sterne

Die Nacht ist dunkel und kalt. Ein leichter Wind weht durch die Haare. Fahl beleuchtet der volle Mond das Gesicht, die Augen blicken starr zu den Sternen. Es sind die Sterne, die ihn immer so an sie erinnern. So schön, so klar, so hell und doch unerreichbar. Keine Chance für einen einsamen Menschen dorthin zu gelangen, keine Chance für ihn. Er kniet sich nieder, in das feuchte Gras, die Arme erhoben. Versucht die Sterne zu greifen, doch sie rinnen durch seine Finger wie Sand. Sie blinken zwischen seinen Fingern, blinken wie ihre Augen. Ihre Augen, er sieht sie am Himmel zwischen den Sternen blinken. Er erinnert sich noch genau daran, an das erste mal, als er diese Augen sah, so nah vor den seinen. Spürt noch den Geruch ihrer Haut, ihrer Haare. Damals an diesem denkwürdigen Tag. Lange ist es her, doch ist ihm, als war es erst Gestern. In seinen Ohren klingen noch ihre Worte, „ich liebe dich.“ Das Gesicht hat sich in sein Gehirn gebrannt, unauslöschlich. So sitzt er da auf der Wiese. Durch die Nacht dringt das Heulen eines Wolfes, fern, aus den Bergen. So viel Einsamkeit in diesem Ruf. Sein Blick richtet sich auf die Berge. Ja, er kann die Wölfe gut verstehen. Auch er möchte schreien, in die Nacht hinaus. Doch kein Ton entrinnt seiner Kehle. Es würde nichts nutzen, nichts würde ihn ihr näher bringen. Wie die Sterne so unerreichbar für ihn. Seine Gedanken schweifen ab. Sie liegt in seinen Armen. Zärtlich streicht er über ihr Haar, ihr Lächeln fasziniert. Sanft berühren sich die Lippen, Hände streichen über weiche Haut. Spürt das bekannte Kribbeln, überall in seinem Körper. Immer dieses Gefühl, immer wenn sie sich sehen. Die Wind nimmt zu, holt ihn aus seinen Träumen. Hier ist niemand zum Schmusen. Wenn er aufblickt, kann er sie sehen. Doch berühren kann er sie nicht. Schon soviel erfolglose Versuche sich von ihr zu befreien. Die einzige wirkliche Befreiung wäre der Tod. Doch diesen Weg geht er nicht. Zu lang und zu kalt, ein Ausweg ohne Wiederkehr. Hatte schon so oft versucht sie, sich, seine Liebe zu vergessen. Hatte sich klar gemacht, daß sie unerreichbar ist, daß er sie zwar sehen aber nicht erreichen kann, je schneller man läuft um so weiter entfernt sie sich. Und immer wenn man sie fast vergessen hat, blickt man aus Versehen zum Himmel und sieht direkt in ihre strahlenden Augen. Und dann mit einem mal ist sie wieder da. Ist alles Vergessene wieder da. Spukt sie einem wieder durch die Träume. Sieht sie überall, im Supermarkt an der Kasse, im Gedränge im Bus, auf der Straße, hinter jedem Fenster. Alles erinnert an sie, alles sieht ihr so ähnlich. Und mit den Erinnerungen kommt der Schmerz, das Wissen um die Entfernung. Diese Nacht wird anders, anders als alle tausend davor. Aus den Sternen löst sich ein Licht, wird heller, größer. Kommt direkt auf ihn zu. Kann seinen Augen kaum glauben, neben ihm im Gras steht ein glänzendes Raumschiff, die Tür weit offen … auf dem Weg zu den Sternen. Wunder kann nur die Liebe vollbringen.

Paderborn, 19.01.1995

Der Drache und die Prinzessin

„Mami, gibt es Drachen ?“, fragte die kleine Janette ihre Mutter. Diese ließ ihre Handarbeit liegen und schaute auf, „nein mein Kind, es gibt keine Drachen. Das sind alles nur Geschichten.“ „Woher weißt du das“, fragte die Kleine. „Ich weiß es halt und jetzt mach das du ins Bett kommst, es ist schon spät.“ Das Mädchen ging zur Tür und mit einem „gute Nacht Mami“, verließ sie den Raum. Eine Träne rann über das Gesicht der Mutter, ihre Stickerei fiel zu Boden. Sie hatte soeben ihre Tochter belogen, es gibt Drachen, einen hatte sie mal gekannt. Sie blickte auf die flackernde Flammen im Kamin, die alten Bilder stiegen wieder vor ihren Augen auf. Sie war noch ein junge Prinzessin, damals. Sie spielte im Garten, nahe am Wald, genau da wo ihr Vater es ihr immer verboten hatte. Da sah sie etwas im Gras liegen, sie näherte sich vorsichtig und doch neugierig. Vor ihr im Gras lag ein kleiner Drache und sah sie mit großen Augen an. „Was bist du denn für einer“, fragte sie ohne eine Antwort zu erwarten. „Ich bin Kantano der Drache“, antwortete das kleine Wesen. „Du kannst sprechen“, fragte die Prinzessin erstaunt. „Ja, warum nicht, alle Drachen können sprechen.“ So fing das damals an. Sie baute ihm ein Nest aus Stroh, welches sie aus den Pferdeställen nahm und brachte ihm immer etwas zu essen. Es dauerte gar nicht lange, da konnte Kantano wieder fliegen. Aber er kam immer wieder zu der Prinzessin zurück. Sie spielten, plauderten und hatten eine schöne Zeit. Die Prinzessin wuchs heran und wurde immer schöner, ihr langes, blondes Haar glänzte in der Sonne wie Gold. Es kam die Zeit wo die Prinzen sich für sie zu interessieren begannen. Doch sie sprach lieber mit ihrem kleinen Freund dem Drachen, der ihr immer etwas vorsang wenn sie sich nicht wohlfühlte und immer für sie da war wenn sie ihn brauchte. Dann kam dieser Schicksalhafte Tag, ihr Vater stellte ihr ihren zukünftigen Mann vor. Ein stattlicher Jüngling, mit einem freundlichen Gesicht. Am Abend rannte sie sofort zu der Wiese am Wald, wo der Drache schon wartete und erzählte ihm alles. Er schaute traurig in ihre Augen, „ich habe gewußt das sowas kommt, bald ist es Zeit für uns Lebewohl zusagen.“ „Nein“, viel ihm die Prinzessin ins Wort, „das werde ich nicht zulassen.“ Doch der Drache sah sie weiterhin traurig an und entgegnete, „da ist etwas was ich dir noch nie erzählt habe. Setze dich zu mir ins Gras und höre mir zu.“ Und der Drache erzählte von seiner Welt und offenbarte ihr, das er dort der König sei. Doch fühle er sich dort so einsam und nur in ihrer Nähe spüre er die Wärme der Liebe. Die Prinzessin sah ihn lange an ohne ein Wort zu sagen und als es dunkel wurde ging sie zurück zum Schloß. „Bis Morgen, ich muß etwas nachdenken“, rief sie ihm noch zu. Der Drache erhob sich, breitete seine Schwingen aus und entschwand in der Nacht. Am nächsten Tag trafen sie sich wieder. Die Prinzessin sah ihn an, wie er da vor ihm im Gras hockte, „ich habe darüber nachgedacht. Ich will diesen Prinzen nicht heiraten, er sieht zwar toll aus, aber er kann mir nicht das geben was du mir gibst. Nimm mich mit in deine Welt.“ So vergingen die Tage, beide lagen so oft sie konnten im Gras und sponnen gemeinsam Träume über die Zukunft. Dann kam der Tag der Hochzeit. Sie hatten abgemacht, daß sie sich am Abend zuvor an ihrer Stelle am Wald treffen um dann gemeinsam in das Drachenland zu fliegen. Der Drache saß nun schon seit Stunden dort im Gras wo sie immer so glücklich gewesen waren und wartete. Die Sonne war schon längst untergegangen. Er wartete die ganze Nacht und den ganzen nächsten Tag. Doch die Prinzessin, seine Prinzessin erschien nicht. Statt dessen hörte er den Lärm der Feier, das Lachen der Gäste und nach Einbruch der Dunkelheit sah er die bunten Lichter mit denen das Schloß geschmückt worden war. Der Drache saß dort ganz allein und weinte still vor sich hin. Die Tränen rannten über sein Gesicht und fielen zu Boden und dort wo sie die Erde berührten verwelkte sofort das Gras, so bitter waren seine Tränen. Die Hochzeit war zu ende, das Paar lag im Hochzeitsbett, das Fenster wegen der Hitze geöffnet. Gerade wollte der Prinz sie küssen, da wehte der Wind den Gesang des Drachens durch das Fenster in den Raum. „Was ist denn das“, fragte er gereizt. „Das weiß ich auch nicht“, antwortete sie und gab sich ihm hin, mit einer Träne im Auge. Nur ein Betrunkener sah den Drachen im Licht des Vollmondes verschwinden, aber er konnte sich am nächsten Tag nicht mehr daran erinnern. Kein Mensch hatte ihn seitdem je wieder gesehen.

Das alles war nun schon über zehn Jahre her, doch noch immer war die Erinnerung in ihr wach. Sie hatte sich damals dafür entschieden hier, in ihrer Welt zu bleiben. Hier kannte sie alles, hier kannte sie die Spielregeln. Sie scheute das Risiko und so hatte sie sich schließlich doch für die Heirat entschieden. Aber ob das Richtig war, sie wußte es immer noch nicht. Am Tage, bei der Arbeit dachte sie nicht daran, auch nicht in der Nacht wenn ihr König bei ihr lag. Aber wenn sie allein ist, dann kommen die Zweifel wieder hoch. Und manchmal nachts, bei Vollmond, da glaubt sie den Gesang des Drachens zu hören. In solchen Nächten weiß sie, daß ihre Entscheidung falsch war, denn hier kann man nicht träumen. Schon gar nicht zusammen mit ihrem Mann.

Dedicated to Silke N. Paderborn, 16.05.1995